Ein wenig Statik
„Sonsten ist bey diesem Schönen Lustgebäude Zu Observiren daß man keine Balcken darinn findet sondern daß daß dach die oberen Zimern und sich selbsten Trägt.“[1] Mit diesem trockenen Satz endet die Beschreibung der Amalienburg im Gottorfer Bauinventar – und mit diesem Satz beginnen auch die Schwierigkeiten beim Verständnis der Konstruktion des Gebäudes. Auch Jürgensen bezeugt, daß der große Saal bis in das Dach herauf stützen- und balkenlos war; und den Beweis liefert die maßstäbliche Bauzeichnung Meyers: keine Stütze, keine Aussteifung verstärken den Mittelsaal – schon optisch erweckt die Zeichnung den Eindruck eines sehr instabilen Gebäudes, bei dem man es in allen Fugen förmlich knacken hört. Auch die sonstige, nur auf äußerliche Wirkung angelegte Bauweise verleiht der Amalienburg eher den Charakter einer temporären Festarchitektur, als eines dauerhaften Lustschlößchens, und man kann die Vermutung nicht abschütteln, daß dem Gebäude von vorneherein nur eine begrenzte Lebensdauer zugebilligt worden ist. Wie war es daher möglich, daß die Amalienburg trotzdem über 150 Jahre Bestand hatte und augenscheinlich weniger ihrer Statik, als vielmehr dem mangelndem Unterhalt zum Opfer fiel?
Um zu verstehen, was Zimmermeister Frederik Tamsen und seine Gesellen da 1669/’70 im Neuwerkgarten errichteten, ist es zunächst nötig, das Gebäude in seinen massiven Unterbau und in das Dachwerk zu zerlegen (Abb. 15.). Der Unterbau entsprach ganz den Gepflogenheiten herkömmlicher Mauer- (und Steinmetz-)technik und barg keine Geheimnisse. Die Gründung war indes sehr einfach und – wenn man der Bauzeichnung Glauben schenken darf - geradezu nachlässig ausgeführt: man mauerte direkt auf dem gewachsenen Erdboden; ein solides Feldsteinfundament scheint es nicht gegeben zu haben[2]. Durch das ansteigende Gelände lag der nördliche Bereich der Fundamentmauer zwar ca. 45 cm im Erdreich, doch das reichte nicht einmal für eine frostfreie Gründung[3]. Daß auf solche Weise auch buchstäblich das Fundament für schwere Bauschäden gelegt war, ist sofort ersichtlich – Hebungen und Setzungen im Wechsel der Jahreszeiten sowie der ungebremste Aufstieg der Erdfeuchte in das Mauerwerk sollten der Amalienburg denn auch schwer zusetzen. Daß dem Gebäude jede Heizmöglichkeit fehlte, dürfte ein Übriges getan haben, um für die empfindlichen Gemälde ein ungesundes, feuchtkaltes Klima zu schaffen.
In die Umfassungsmauern kam eine dicke Kiesschüttung, bis die Höhe des Fußbodenniveaus erreicht war. Darauf packte man – den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend – eine Lehmschicht, auf der die Fliesen verlegt wurden. Auffällig ist die - für ein Lusthaus - ungewöhnliche Wandstärke des Mittelsaales von immerhin zwei Steinen bzw. 2 Fuß. Dieser Umstand wird im Folgenden noch von Wichtigkeit werden. Die Pavillonwände waren dahingegen nur anderthalb Steine stark. Unter und über den Fenstern ging die Wandstärke aus statischen Gründen sogar auf nur 1 Fuß zurück. Daß die Fenster in leicht zurückspringenden Wandflächen saßen und nach innen eine schräg angeschnittene Laibung aufwiesen, war eine einfache Maßnahme, um möglichst viel Licht in die Innenräume zu bringen. Über den Fenstern wölbten sich flache Segmentbögen, welche die Last der darüberliegenden Bauteile in die Laibungen ableiteten. Man darf annehmen, daß das Mauerwerk im Blockverband gesetzt war.
Doch wie sahen nun die Verhältnisse im Dachwerk aus? Die Bauzeichnung überliefert uns hier ein für den ersten Augenschein höchst fragiles Gebilde, bei denen Balken und Riegel kaum mehr als 10 x 10 cm gemessen haben; die Sparren brachten es immerhin auf ca. 15 x 15 cm, einzig die Schwellen für das obere Saalgeschoß maßen stattliche 20 x 25 cm. Auch für die besonders beanspruchten Gratsparren dürfen wir etwas stärkere Querschnitte annehmen. Außen waren Dach- und Wandflächen mit Brettern verschalt; innen trugen sie eine bemalte Leinwandbespannung bzw. bemalte Verbretterung. Leichtigkeit der Konstruktion war demnach oberstes Gebot. Doch der erste Eindruck der Instabilität ändert sich rasch, wenn man den Dachaufbau einmal räumlich betrachtet: die abgestuft-pyramidalen Obergeschosse stellen nämlich dem Grundsatz nach ein modernes Raumtragwerk dar, das sich von selbst stabilisiert. Das Prinzip einer solchen Konstruktion ist von Tamsen – der sich ganz am Althergebrachten orientierte - jedoch offensichtlich nur halb verstanden und zu einem eigentümlichen statischen Zwitterwesen verwandelt worden.
Die Grundform des Dachaufbaus der Amalienburg bildet die Pyramide. Da sich ein solches Gebilde (mit den Augen des Ingenieurs betrachtet) aus vier Dreiecken zusammensetzt, die per se verwindungssteif sind, gehört es zu einem der stabilsten Raumtragwerke überhaupt. Belastet man die Pyramide vertikal von oben, so nehmen die vier schrägen Grate die Druckkräfte auf und leiten diese in die vier unteren Eckpunkte ab, wo sie von den vier waagerechten Schwellen als Zugkräfte aufgenommen werden. Die waagerechten Kräfte verlaufen damit in Längsrichtung zur Wand. Es ist also theoretisch möglich, die schweren Schwellen gar durch ein leichtes, ringsumlaufendes Seil zu ersetzen, ohne daß dadurch die Statik des Systems in irgendeiner Weise gefährdet wird. Horizontale Schub- bzw. Druckkräfte quer zum Wandverlauf treten hingegen überhaupt nicht auf - weiterer Balken oder Anker im Inneren bedarf es also nicht.
Wie liegen nun die Verhältnisse bei einem Pyramidenstumpf? Da seine Seitenflächen aus Trapezen gebildet werden, die nicht verwindungssteif sind, ist die Einschaltung von weiteren acht Druckstäben zwingend notwendig, um an den Ecken verwindungssteife Dreieckverbände zu erzeugen. Erst diese verwandeln den Pyramidenstumpf in ein stabiles Raumtragwerk. Dann aber verlaufen die Kräfte ganz wie in der Pyramide: Die Gratsparren und der obere, horizontale Schwellenkranz nehmen die Druckkräfte auf, der untere Schwellenkranz die Zugkräfte. Auch hier verlaufen alle waagerechten Kräfte längs zur Wand; auch der Pyrami-denstumpf kommt damit ohne weitere Anker oder Balken in seinem Inneren aus.
Ganz anders verhält sich jedoch die Sache bei den herkömmlichen Sparrendächern, wie sie im 17. Jh. allgemein üblich waren und bis heute üblich sind. Bei ihnen handelt es sich um eine Aneinanderreihung von Einfeldträgern, deren Zugkräfte an den Sparrenfußpunkten auftreten und quer zum Wandverlauf wirken. Um also zu verhindern, daß die Sparren die Wände auseinanderdrücken, müssen sie auf Deckenbalken fußen oder mit anderen Zugstäben ausgestattet sein. Neuzeitliche Satteldachkonstruktionen (Wiegmann-Polonçaeu-Binder) vermögen tatsächlich, den Deckenbalken durch Seile zu ersetzen.
Frederik Tamsen, der 1669 das Dachwerk der Amalienburg errichtete, waren diese Dinge dem Prinzip nach sicher bewußt, doch wenn man sich die Bauzeichnung genau anschaut, so wird deutlich, daß er die Theorie des Raumtragwerks nicht beherrschte, sondern es noch ganz im Sinne des ihm vertrauten Sparrendaches behandelte. Er setzte zur Stabilisierung der Trapezflächen des Pyramidenstumpfes keine weitgespannten Dreieckverbände ein, sondern fügte an den Ecken nur sog. Schifter an die Gratsparren an – eine Konstruktion, wie sie bei den landesüblichen Walmdächern gang und gäbe war. Die restlichen Flächen aber wurden mit herkömmlichen Dachsparren gefüllt, die überdies in Balkenstummeln fußten, kurz: man ging also offensichtlich noch davon aus, daß die Kräfte quer zur Wand verliefen und verwandelte dementsprechend das Raumtragwerk in ein System aus rudimentären Einfeldträgern. Da aber der Einsatz von durchlaufenden Deckenbalken, die sich über den ganzen Saal spannten, ausgeschlossen war, suchte man also die Schubkräfte durch eine dicke Wand und schwere Widerlager für die Sparrenfüße aufzunehmen: knapp unter der Mauerkrone verlief ringsum die sog. Muurplaat, eine hölzerne Schwelle, auf der normalerweise die Dachbalken aufgekämmt waren und so eine unverschiebliche Verbindung zwischen Dach und Wand herstellten. Im Falle der Amalienburg war Tamsen in Erwartung der vermeintlich starken Schubkräfte noch einen Schritt weiter gegangen und hatte die Schwelle zusätzlich in die Konsolsteine, welche die Dachgalerie trugen, eingelassen, als auch auf dieser wiederum Balkenstummel aufgekämmt, in die wiederum die Sparrenfüße einzapften.
Dabei behielt der Zimmermeister sogar Recht, denn durch die Art und Weise, wie er die Konstruktion anfaßte, traten – zusätzlich durch den Wandaufbau auf dem Pyramidenstumpf verstärkt – tatsächlich an den Sparrenfüßen Schubkräfte auf, die nur durch ein unverschiebliches Widerlager aufgefangen werden konnten. Die einzige Lösung bestand in der Errichtung einer schweren Massivwand – und in der Hoffung, daß diese nicht im Lauf der Zeit auseinanderbersten möge. In ähnlicher Weise hat man sich auch den konstruktiven Aufbau der Pavillonobergeschosse vorzustellen, wenngleich die hier abzuleitenden Lasten nicht so groß waren, wie beim Mittelbau. Generell traten die größten Kräfte der Konstruktion an den Ecken auf. Problematisch war hierbei, daß die ohnehin schon recht dürftigen Querschnitte der Hölzer bei den zimmermannsmäßigen Holzverbindungen (Überblattung, Verkämmung, Verzapfung) gerade an diesen Knotenpunkten zusätzlich geschwächt wurden und hier so besonders gefährdet waren.
Auch bei den Pyramidendächern beobachten wir den gleichen Versuch, das Raumtragwerk in Einfeldträger zu verwandeln: die Grat- und Schiftsparren fußten auf Balkenstummeln, die ihrerseits auf die Fachwerkwände – und zudem sehr ‚kippelig’ - aufgekämmt waren[4]. Gleichzeitig bildeten die Balkenstummel die Auflager für die gebogenen Rippen der gewölbten Decken. In der Mitte besaßen die Dächer die übliche Mittelsäule, in welche oben die Gratsparren einzapften und die unten die Gewölberippen hielten. Ganz unten endeten die Säulen erwähntermaßen in gedrechselten Knäufen; oben ragten sie noch um einiges über die Dachspitze hinaus und bildete so die Postamente für die Dachbekrönungen.
Eine Eigentümlichkeit sei hier erwähnt, die weder im Bauinventar, noch in der Bauzeichnung vorkommt, aber doch vorhanden gewesen sein muß: der Entwurf des Dachaufbaus brachte es mit sich, daß die Gratsparren des mittleren Pyramidenstumpfes in die Innenecken der oberen Pavillonkabinette hineinliefen und dort als schräge Flächen erschienen, die ca. 60 cm hoch vom Fußboden zur Wand aufstiegen. Weshalb diese bauliche Besonderheit nicht erwähnt bzw. gezeichnet worden ist, bleibt unklar[5].
Betrachtet man die Dachkonstruktion der Amalienburg in ihrer Gesamtheit, so wird man zu dem Urteil kommen, daß sie für ihre Zeit zumindest ungewöhnlich war. Nur zu deutlich zeigt sich, daß man hier statisches Neuland betrat, und auch dieser Umstand mag hinsichtlich der Einordnung der Amalienburg als barockes Bauwerk von Wichtigkeit sein. Die Lösung der Aufgabe erscheint gewagt und darf nur mit dem Maßstäben der Zeit gemessen werden: man hat mit dem damals zur Verfügung stehenden Wissen die Probleme erkannt und mit den damaligen handwerklichen Mitteln eine angemessene Antwort für diese Aufgabe gefunden. Der heutige Ingenieur wird dieselbe Konstruktion jedoch als nahezu fahrlässig betrachten, sowohl, was ihre statische Behandlung als ‚Pseudo-Einfeldträger’ anbetrifft, als auch die Wahl der Holzquerschnitte und der Holzverbindungen. Entsprechend wird er eine vergleichbare Aufgabe heute selbstverständlich anders angehen – sowohl in der statischen Behandlung, als auch in der Wahl der Verbindungsmittel an den besonders belasteten Knotenpunkten[6].
Es steht also außer Frage, daß die Amalienburg große Schwachpunkte besaß – angefangen von der mangelhaften Fundamentierung, die zu starken Mauerschäden führte, bis hin zum Dachwerk, das schwach konzipiert und überdies von oben und unten (Setzungserscheinungen) außerordentlichen Belastungen ausgesetzt war. Das so aufwendig ausgestattete Lusthaus bedurfte also ständiger Aufmerksamkeit und Pflege, wenn es längeren Bestand haben sollte. Inwieweit dies jedoch der Fall war, soll abschließend geschildert werden.
[Zeichnung: Verfasser.]
- Anmerkungen -
1] Bauinventar, S. 638. [2] Auch dies spricht dafür, daß die Amalienburg nur für eine beschränkte Zeitspanne konzipiert war. Endgültigen Aufschluß hierüber kann jedoch nur eine Grabung in diesem Bereich erbringen. Die Rentekammerabrechnungen belegen zwar für den Zeitraum 1669 – 1673 umfangreiche Baumateriallieferungen und Bautätigkeiten im Neuwerkgarten, doch lassen sich die einzelnen Posten nur in Einzelfällen explizit der Amalienburg zuordnen, da auch an vielen anderen Stellen im Neuwerkgarten Handwerker tätig waren. [3] Die Tiefe für eine frostfreie Gründung beträgt 80 cm. Die Sorglosigkeit der Fundamentierung erklärt sich vermutlich auch durch den günstigen Baugrund, den man hier vorfand. [4] An dieser Stelle wären sog. Knaggen, d. h. Konsolen angebracht gewesen, doch eigentümlicherweise kamen diese – wenn man der Bauzeichnung Glauben schenken darf – nicht zur Verwendung. [5] Eine andere Möglichkeit wäre es natürlich, wenn die Gratsparren in die Eckständer der Kabinette einzapften und sozusagen auf halber Höhe endeten. Doch abgesehen davon, daß eine solche Lösung schwerste statische Probleme mit sich gebracht hätte, wäre nun die untere Innenecke des Kabinetts in der Dachschräge des Pyramidenstumpfes im Mittelsaal unangenehm in Erscheinung getreten – was bestimmt nicht beabsichtigt worden ist. Die Rekonstruktion zieht daher die oben im Text vorgeschlagene Lösung vor. [6] Vergl. dazu Götz, Hoor, Möhler, Natterer 1980, S. 126f sowie Natterer, Herzog, Volz 1994, S. 220f u. 268f.