Ars sine scientia nihil est.
Der Fassadenaufriß zeigt uns ein zweigeschossiges Gebäude, dessen Erdgeschoßteile von je einem Pyramidenstumpf abgedeckt wurden, auf dem ein etwas einspringendes Obergeschoß stand. Dabei überragte der Mittelbau die Eckpavillons deutlich. Über allen Baukörpern erhoben sich Pyramidendächer mit einer Dachneigung von rund 38°. Auch der Aufriß war Gegenstand eingehender Untersuchungen, um hier die Maßverhältnisse zu entschlüsseln. Die Proportionen der Bauhöhen, Fensterflächen usw. wurden jedoch nur noch vereinzelt von dem 2½-Fuß-Raster beherrscht; ansonsten kam vielmehr ‚die hohe Schule’ des Baumeisters zur Anwendung, d. h., daß sich die Amalienburg auf sorgsam aufeinander abgestimmten Maßverhältnissen aufbaute, um dem Betrachter einen harmonischen Anblick zu bieten. Das Verhältnis Wandlänge - Höhe basierte hauptsächlich auf dem Verhältnis 1 : √2, dessen Konstruktion (die Diagonale eines Quadrats wird durch einen Zirkelschlag auf die Grundlinie gelegt) allgemein bekannt war und keine Schwierigkeiten bot. Das daraus resultierende liegende Rechteck erzeugt seinerseits eine Diagonale, die wir – parallel verschoben – in der Dachneigung wiederfinden. Aus der Verdoppelung der Höhe der Erdgeschoßwände ergeben sich die Traufhöhen der Pyramidendächer; aus ihrer Halbierung wiederum die Höhe der Fensterbrüstung im Obergeschoß des Mittelsaales sowie die Höhe des Mittelpunktes im Türbogen des Hauptportals.
Bei den Fenstermaßen der Pavillons tritt im Erdgeschoß noch einmal das 2½-Fuß-Raster auf (hier im Verhältnis 2 : 3, d. h. 5 : 7½ Fuß[i]); die oberen Kabinettfenster dagegen benutzen das bekannte Verhältnis 1 : √2. Die Proportionierung der großen Fenster des Mittelsaales (links und rechts des Portals) entstand durch zwei auf ihre Spitzen gestellte gleichseitige Dreiecke, fußte also auf der Sechserteilung des Kreises durch Zirkelschläge. Die Segmentbögen über allen Fenstern wurden aus dem Fenstermittelpunkt heraus konstruiert. Das große Portal als zentraler Blickfang beanspruchte natürlich das ‚vornehmste’ Maßverhältnis, welches die Baukunst kennt: den Goldenen Schnitt. Die Konstruktion des Goldenen Schnittes ist aus der Abbildung ersichtlich, wobei das Ausgangsmaß natürlich das 2½-Fuß-Raster ist; die Lage des Karnies’ ergibt sich überdies aus einem Quadrat, dessen Seitenlänge gleich der Portalbreite ist und dessen Zentrum mit dem Mittelpunkt des Portalbogens zusammenfällt.
Alles in allem bietet uns die Amalienburg eine ganze Palette verschiedener Maßverhältnisse an, die indes eine innere Stringenz und Logik untereinander nur schwer erkennen lassen. Überdies passen die Proportionen – abgesehen vom 2½-Fuß-Raster – bisweilen nur in ‚guter Übereinstimmung’, d. h., daß an diesen Stellen Abweichungen von bis zu drei Prozent vom Ideal auftreten. Es ist also fraglich, ob die Amalienburg bewußt mit dem Zirkel (bzw. dem Proportionalzirkel) konstruiert worden ist, oder ob wir es hier nicht vielmehr mit der Intuition und dem harmonisch geschulten Augenmaß des versierten Baumeisters zu tun haben – eine Frage, die weiter unten noch einmal angerissen wird. Eine Ursache für die leichten Abweichungen dürfen wir aber ganz sicher in dem Backsteinformat suchen, das per se ein streng einzuhaltendes, allem Anderen übergeordnetes Grundmodul bildete[ii].
[Zeichnungen: Verfasser.]
[i] Dieses Verhältnis kommt dem harmonischen Goldenen Schnitt recht nahe. [ii] Auch wenn eine gelungene Proportionierung oftmals intuitiv entstanden ist und so von den geometrischen Gesetzen leichte Abweichungen zeigte, so wurde die Bedeutung der Maßverhältnisse für den Anblick eines Gebäudes und die harmonische Wirkung auf den Betrachter in der Renaissance- und Barockzeit doch nie in Frage gestellt. Dort, wo sich ein bewußt angewandtes Proportionsschema nachweisen läßt, ist dieses - vor allem bei Renaissance-Bauten - für die Interpretation des Gebäudes oft von großer Bedeutung. (vgl. Naredi-Rainier 1982). Sandsteinbauten und Putzfassaden ließen sich indes sehr viel leichter nach den harmonischen Gesetzen ‚maßschneidern’.